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GMF goes Goldach oder “vestis virum reddit”

    Hand aufs Herz: Wer hat nicht schon einmal davon geträumt, kurzzeitig in ein fremdes Leben zu schlüpfen oder zumindest die eigene Laufbahn durch einige Details etwas aufzuhübschen?

    Über dieses Thema ging es im Wesentlichen beim diesjährigen Lektüreprojekt im Deutschunterricht der Klassen 8b und 8d. Wer es bis jetzt noch nicht erraten hat: Es handelt sich um die Novelle „Kleider machen Leute“ des schweizerischen Autors Gottfried Keller.

    Die Geschichte ist wahrscheinlich den meisten Leserinnen und Lesern aus der eigenen Schulzeit bekannt: 

    Wenzel Strapinski, ein arbeitslos gewordener Schneider, dessen Markenzeichen ein vornehm aussehender Mantel ist, wird in Goldach für einen polnischen Grafen gehalten. In zahlreichen Episoden gelingt es ihm nicht, das Umfeld über seine wahre Identität aufzuklären und er fügt sich schließlich in sein Schicksal, bis er auf einem Maskenball durch einen Widersacher enttarnt wird. Nur durch die Liebe zu Nettchen, welche als Einzige hinter der Kleidung seinen wahren Charakter erkennt und der Abwertung des Geliebten durch die Goldacher Bürger die Stirn bietet, wird ein schlimmes Ende verhindert.

    Ein angestaubtes Thema? Muss man da als Lehrerin schnell eine mehr oder minder lustige Youtube-Playmobil-Zusammenfassung einschieben, um die beiden 8. Klassen am Einschlafen zu hindern? Keineswegs – zum Glück!

    Zu überraschenden Ergebnissen gelangten wir im Laufe der Lektürebesprechung: Brandaktuell ist dieses Thema, leben wir doch heute in einer Welt, in der wir in den Medien ständig mit trügerischen Illusionen konfrontiert und von begehrenswerten Idealen zu Lebensstilen verführt werden, welche bei genauer Überlegung unmöglich Realität sein können. Deutlich erkannt wurde während des Projekts, dass unser Held Wenzel in verschiedenen Situationen im Grunde unverschuldet in seine Rolle gedrängt wurde, während uns jedoch heutzutage Influencer ihr vermeintlich traumhaftes Leben zur Schau stellen, um Meinungen, Trends und Konsumverhalten zu formen.

    Nach diesen eher besorgniserregenden Erkenntnissen hatten wir jedoch auch viel Spaß beim Nachspielen oder Modernisieren einzelner Szeneninhalte oder der Sprache Kellers. Auch am Happy End der Geschichte -wahre Liebe löst alle Probleme- hatten einzelne Achtklässler überraschenderweise einiges auszusetzen, denn für sie ist Wenzel entweder ein Lügner, mit dem man keine Bindung eingehen sollte, oder die Ehe mit Nettchen führt aufgrund der vorhersehbaren biederen Alltagsroutine zu einem nur noch gezwungenen Zusammensein. 

    Als Abschluss wurden Faschingsmasken, wie man sie vielleicht auf dem  alles entscheidenden Ball der Enthüllung im Wirtshaus von Goldach-Seldwyla getragen haben mag, gebastelt und in Minireferaten näher erläutert. Auch hier wieder: Masken und Verkleidung ermöglichen nicht nur eine Verwandlung, sondern verbergen zumindest zeitweise auch unsere wahre Identität – im Zeitalter des Datenschutzes sogar für Veröffentlichungen im Jahresbericht nutzbar! 

    Was konnten die Schüler und Schülerinnen aus diesem Projekt lernen?

    Natürlich vordergründig, dass man immer genau hinsehen sollte, bevor man Rückschlüsse auf Personen zieht, welche lediglich aufgrund von  Äußerlichkeiten oder dem Vorgeben von erstrebenswerten Details zum Lebenslauf gesteuert werden. Vielleicht auch, dass die Verurteilung Wenzels durch die Leute von Goldach-Seldwyla einem Dislike, pardon, – die Deutschlehrerin kann ihr wahres Wesen nicht verhüllen- Daumen runter gleichkommt und man sich überlegen kann, ob es wirklich nötig ist, alles und jeden zu kommentieren.     

    Bleibt nur noch zu erwähnen, dass unsere Schüler über ein erstaunlich klares Bild vom Schein und Sein der aktuellen Youtube- oder Instagramszene verfügen und durchaus wissen, wo Identitäten und Ereignisse nur vorgegaukelt werden, um Abonnenten zu ködern.

    P.S.: Der oben erwähnte Playmobil-Film wurde –das Endergebnis lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor- durch eine weitere Version, die am GMF spielt, ergänzt und hindert vielleicht künftige Schülergenerationen am Einschlafen …

    Eva-Maria Elsäßer